Freitag, 05 Juli 2019 13:33

Schon ein verrückter Kerl

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Schauspieler Jens Weisser bei seiner szenischen Lesung aus dem Roman „Ein Kapitel für sich“ von Walter Kempowski. Den ironisch-sarkastischen Ton der Vorlage traf er dabei genau, ohne allzu sehr ins Parodistische abzugleiten. Schauspieler Jens Weisser bei seiner szenischen Lesung aus dem Roman „Ein Kapitel für sich“ von Walter Kempowski. Den ironisch-sarkastischen Ton der Vorlage traf er dabei genau, ohne allzu sehr ins Parodistische abzugleiten. Schnepel

Schauspieler Jens Weisser liest im Haus Kreienhoop Passagen aus dem Haftroman „Ein Kapitel für sich“

Bericht aus der Zevener Zeitung vom 05.ß7.2019 von Joachim Schnepel

„Ein Kapitel für sich“: So lautet nicht nur ein geflügeltes Wort, sondern auch der Titel eines bekannten Romans vom Walter Kempowski aus dem Jahre 1975. Er schildert unter anderem die Haftzeit Walter Kempowskis und seines Bruders Robert in Bautzen. Beide saßen dort wegen angeblicher Spionage für die Amerikaner von 1948 bis 1956 ein. Aus diesem immer noch aktuellen und beeindruckenden Buch las der Schauspieler Jens Weisser, der mit der Familie Kempowski persönlich befreundet ist, am Mittwochnachmittag auf Einladung der Kempowski- Stiftung Haus Kreienhoop vor.

Aufgrund des zunächst etwas schwächeren Publikumsandrangs wurde die Lesung kurzfristig in das „Rostock-Zimmer“ des Hauses Kreienhoop verlegt. Normalerweise finden diese und andere Veranstaltungen im großen Saal des Hauses Kreienhoop statt. Am Ende war das Interesse an der Lesung mit dem bekannten Schauspieler dann aber doch so groß, dass zusätzliche Stühle herbeigeschafft werden mussten.

Der Roman erzählt aus drei verschiedenen Ich-Perspektiven von der Haft in der sowjetischen Besatzungszone und dann der späteren DDR. Kempowskis Mutter Grethe berichtet, wie ihre Söhne Walter und Robert 1948 von russischen Soldaten verhaftet werden. Sie haben Unterlagen über die Demontage in der sowjetischen Besatzungszone illegal nach Wiesbaden gebracht und dort den US-Amerikanern übergeben. Später wird auch die Mutter verhaftet und wegen Mitwisserschaft zu zehn Jahren Haft verurteilt. Ihre beiden Söhne kommen vor ein russisches Militär- Tribunal und dort jeweils 25 Jahre Gefängnis aufgebrummt. Abwechselnd aus der Sicht der Mutter und eines der beiden Söhne werden die Umstände der Verhaftung, die Verhöre und vor allem die Haftbedingungen im ehemaligen Frauengefängnis Hoheneck und der Justizvollzugsanstalt Bautzen präzise dargestellt.

Der Schwerpunkt liegt in der Schilderung der Menschen in der Haft und der Strategien, mit denen sie versuchen, den Gefängnisaufenthalt auszuhalten und zu überleben. Vor allem das Verhältnis der beiden Brüder wird dabei selbstkritisch und ironisch reflektiert. Eingefügt sind Briefe, die sich Verwandte der Kempowskis während dieser Zeit zuschickten. Der Roman endet mit der Entlassung Walters nach acht Jahren Haft.

Ein sehr anspruchsvoller Stoff, den sich der Schauspieler Jens Weisser da vorgenommen hatte. Weisser hat in der Verfilmung des Romans von Eberhard Fechner 1979 die Rolle des Robert übernommen; seit dieser Zeit ist er auch mit der Familie Kempowski bekannt und befreundet, wie er im Gespräch mit der ZEVENER ZEITUNG im Anschluss an die Lesung verriet. Insbesondere mit Robert, der nach dem Krieg bei der Deutschen Bank in Hamburg gearbeitet habe, verband ihn eine Seelenverwandtschaft.

seine Marotten hat er genau studiert und traf denn auch exakt den etwas schnodderig-ironischen Ton der Kempowskis, ohne dabei zu überzeichnen oder allzu sehr ins Parodistische abzugleiten, eine Gefahr, die in solchen Fällen enger Verbundenheit zwischen zwei Menschen, von denen einer den anderen spielt, immer besteht. Wobei sich Weisser bei seiner Lesung in erster Linie auf die Schilderungen Roberts aus der Haft beschränkte.

Hildegard Kempowski, die Witwe des Schriftstellers, dankte Weisser für seine gelungene Lesung, wobei sie anführte, was für ein „verrückter Kerl“ ihr vor einigen Jahren gestorbener Schwager doch gewesen sei. „Ich fand‘s großartig“, so Hildegard Kempowski, die sich indes von dem Tostedter Weisser, der in seinem Heimatort ein eigenes Theater, die „Bunte Bühne“, zusammen mit anderen aufgebaut hat und betreibt, bei der nächsten Lesung noch mehr andere Passagen aus dem Haftroman wünscht. Ein Wunsch, dem Weisser sicherlich irgendwann gerne nachkommen wird. Bei einem nächsten Besuch im Haus Kreienhoop nämlich.

Gelesen 3271 mal Letzte Änderung am Sonntag, 07 Juli 2019 13:37